Mittwoch, 14. Januar 2009

Lesen


11. 01. 2009

Während ich an der Saila auf ein Taxi warte, hält ein Mann auf einem Motorrad vor mir. Er hat nur noch wenige dunkle Zähne im Mund, aber sein strahlendes Lächeln wirkt ansteckend.
„Ein Geschenk“, sagt er und reicht mir eine Broschüre über den Islam. Dann fädelt er sich wieder in den dichten Verkehr ein.



Es ist dies nicht der erste Hinweis darauf, daß ich der falschen Religion anhänge. Bereits die Schneider im Kabuff bei mir um die Ecke hatten mir ein geheftetes Faltblatt in die Hand gedrückt auf dem groß „Willkommen im Jemen“ stand. Darin las ich, daß man die jemenitische Kultur nicht verstehen könne, wenn man den Islam nicht begreife. Auf mehreren Seiten wurden die Grundlagen erklärt, die Säulen der Religion, und daß Frauen sich verschleierten, damit ihre Schönheit die Männer nicht zu Untaten reize. Warum nicht die Männer selbst etwas gegen ihre Triebe unternehmen oder sich einfach im Griff haben, sondern das die Aufgabe der Frauen ist, stand nicht in der Broschüre. Aber daß jeder, der einer anderen Religion als dem Islam angehöre, am Ende ein Verlierer sei, las ich. Diese Warnung mag nett gemeint sein, hört sich für einen gläubigen Christen aber nicht nett an. Vor allem, wenn man darüber nachdenkt, daß hierzulande der umgekehrte Missionierungsversuch mit Gefängnis bestraft würde. Aber die Schneider sowie der Mann auf dem Motorrad kamen wohl ihrer Pflicht als gläubige Muslime nach und wollten nur das Beste für mich. Das was letzterer mir gegeben hat, ist nicht nur eine Einführung in den Islam, besteht vielmehr aus sechs Broschüren zu spezifischen Themen: Der Koran und die modernen Wissenschaften, das Leben nach dem Tod, die Position der Frau im Islam usw. verfasst von unterschiedlichen Professoren. Die Lektüre hebe ich mir für später auf.



Im Taxi hängt ein knallrotes Herz am Rückspiegel, Plastikblumen verschönern das Armaturenbrett. Wir fahren zur Universität, wo ich an der Germanistischen Fakultät aus einem meiner Bücher lesen soll. Der Campus ist weitläufig, die Hörsäle und Unterkünfte liegen verstreut über dem staubigen Gelände. Nur einige Hauptstraßen sind asphaltiert. Kleine Kioske verkaufen, was die Studenten an Getränken und Eßbarem brauchen. Direkt hinter dem Eingangstor ist ein Zelt für Blutspenden aufgebaut, und eine Traube männlicher Studenten wartet darauf, auf einem der Stühle Platz nehmen zu können und für die Opfer im Gazastreifen zur Ader gelassen zu werden.



Im Hörsaal hängen Poster mit Motiven aus Deutschland an den Wänden. Schloß Neuschwanstein sehe ich, Bilder von Leipzig, Erfurt. Die Studentinnen haben sich in den hinteren Reihen auf der linken Seite niedergelassen, ihre männlichen Kommilitonen nehmen, da sie in der Überzahl sind, die andere Seite und die vorderen Reihen ein. Unmittelbar nach der Lesung haben sie eine Menge Fragen. Jemand will wissen, ob ich vorhabe, ein Buch über den Jemen zu schreiben, ein anderer fragt, worin der Unterschied zwischen der älteren deutschsprachigen Literatur und der neuen bestehe?
„Was ist Ihr Hauptthema?“
„Wollen Sie mit Ihrer Erzählung „Beobachtungen“ das Ende der Welt beschreiben?“
„Ist Grammatik wichtig für die Literatur?“
Es dauert eine Weile, bis sich auch die Damen zu Wort melden. Eine will wissen, ob auch Frauen eine Rolle in meinen Werken spielen?
„Welche Gattung bevorzugen Sie?“
„Was halten Sie heute von Ihrem ersten Buch?“
Die Zeit vergeht wie im Flug. Das Sonnenlicht streift in den Glasvitrinen über die Buchrücken, während eine Wortmeldung nach der nächsten kommt
Die Studenten und Studentinnen lesen vor allem die deutschen Klassiker, aber auch Borchert, Kafka und Hesse stehen auf dem Programm. Jemand erwähnt Anna Seghers.
Wo man denn meine Bücher lesen könne, will eine Studentin wissen?Na, da müßte doch eine Spende von Suhrkamp an die Universität von Sanaa drin sein.