Donnerstag, 15. Januar 2009

Abdallah und Adrian


13. 01. 2009

Am Kontrollpunkt außerhalb Sanaas stehen die Soldaten gelangweilt herum, schauen in die Wagen, ein kurzer Blick, ob die Insassen Waffen dabei haben, winken die Pendler durch. Meine Genehmigung, das Umland zu besuchen, aber will genauer untersucht werden.
„Steht doch alles drauf“, sagt Khalid, der mich nach Shibam-Kaukaban und Thulla bringen soll. Aber der Soldat zeigt das Papier lieber seinem Chef.
„Vielleicht kann er nicht lesen“, vermutet Kahlid und lacht.


Zwar besteht im Jemen Schulpflicht, aber niemand kontrolliert, ob ein Kind wirklich hingeht. Viele Familien können es sich gar nicht leisten, ihren Nachwuchs unterrichten zu lassen. Der Staat stellt offiziell das Lernmaterial zur Verfügung, aber oft ist es bei Schulbeginn nicht ausreichend vorhanden. Hinzu kommen Kosten für die Uniform, Prüfungsgebühren usw. Und die Kinder fehlen den Familien als Arbeitskraft. Die Lehrer werden schlecht bezahlt, sind dementsprechend motiviert, und in den Klassenräumen tummeln sich zwischen 50 und 80 Lernwillige, von denen die Hälfte die Grundschule nicht beendet. Die Analphabetenrate liegt derzeit im Landesdurchschnitt bei 50%, wobei die Frauen mit 70% weitaus schlechter abschneiden.



Über eine gerade Straße geht es an Geröllflächen vorbei, ausgetrockneten Feldern, stillgelegten Wasserpumpen, Wüste. Dann tauchen Qatfelder auf, die Pflanzen schillern wie junge Birken im Morgenlicht. Im Hintergrund lehnen sich Dörfer an die massiven Felsen, wirken, als hätte Gott Teile seines Baukastens den Hang hinabkullern lassen.
„Dort hinten liegen die Reste von Al-Thafir“, sagt Khalid, zeigt zum Horizont. „Im Dezember 2005 sind Teile des Berges auf das Dorf gestürzt. 20 Häuser wurden begraben, 65 Menschen starben.“
Kahlids Arm wandert die Windschutzscheibe entlang. „Und da bauen sie das neue Dorf für die Überlebenden, finanziert von Saudi-Arabien. Es ist fast fertig.“



Genau in diesem Dorf drehte Michael Roes 1994 Teile seines Films „Abdallah und Adrian“, eine erzählte Dokumentation, die mit den Mitteln der Fiktion eine Rahmenhandlung für den Blick auf das Leben in der Stadt Sanaa und auf dem Dorf Al-Thafir schafft. Abdallah, ein Junge vom Land, kommt nach Sanaa, trifft dort auf Adrian, Sohn eines Jemeniten und einer deutschen Mutter, der dem neuen Freund seine Stadt zeigt. Später besucht Adrian Abdallah in Al-Thafir. Zwei Welten treffen aufeinander, wollen ausprobiert werden. Was den Film so großartig macht, ist seine behutsame Mischung aus Erzählung, Dokumentation und ethnologischem Substrat. Die Bilder sind voller Witz und Klarheit, zeigen Spiele und Stammesriten, führen auf den Markt und ins Hammam. Adrians kindliche Perspektive, die als Stimme aus dem Off den Film begleitet, und Abdallahs lebensfrohe Anwandlung der neuen Situation in der Stadt bilden einen Dialog der Annäherung, des Staunens, Verwerfens und Übernehmens, wie er schöner kaum sein könnte. Völlig unverständlich bleibt, daß der Film 15 Jahre keinen Verleih fand und auf seine Weltpremiere wartete, die abends im Deutschen Haus in Sanaa stattfand.
Abdallah und seine Familie gehören zu den Dorfbewohnern, die den Felsrutsch in Al-Thafir nicht überlebt haben.